"Sonntag" | Ausgabe 3./4. September 2022

mal den Sommer ab, und wenn die Leute imSeptember aus demUrlaub zurück sind, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“ Wer interessiert sich im Urlaub schon noch für die große Politik? Bewusst ausgesucht hat sich Kohl den September als Wahlmonat kaum, denn daswar er rückblickend bereits seit den Anfangsjahren der Bundesrepublik – vermutlich eher aus logischer Konsequenz: Das Frühjahr sei zumWählen wegen der Osterfeiertage schlecht, der Sommer wegen der langen Ferien aber auch, relativiert es Prof. Harald Biermann, HistorikerundPräsident derStiftung Haus der Geschichte der BundesrepublikDeutschland. Unterstellt man dann noch, dass Schnee und Eis im Winter denGang zumWahllokal beeinflussen könnten und auch die Faschingszeit in der früheren rheinischen Bundeshauptstadt Bonn anfangs sicherlich nicht ganz außer Acht blieb, landet man schnell mangels Alternativen im September. Wissenschaftlich muss der Faktor Erholung nach den Sommerferien ohnehin etwas differenzierter betrachtet werden. „In der Urlaubszeit ist die Lebenszufriedenheit noch höher als vor der Urlaubszeit“, erklärt Prof. Bernd Raffelhüschen von der Uni Freiburg. Er ist wissenschaftlicher Leiter des SKL-Glücksatlasses, der jährlich die Zufriedenheit der Deutschenuntersucht. „Mit demEnde der Ferien gibt es zwar eine kurze Phase der Motivation, die aber schnell wieder verfliegt“, erläutert Raffelhüschen. Glücksforscher bezeichneten dies auch als PostUrlaubs-Blues. Nach etwa vier bis sechs Wochen erholt sich die Lebenszufriedenheitwieder auf dasursprünglicheNiveau. DerMensch arrangiert sich mit demAlltag. Die gute Nachricht: Urlaub kann sich aber nachhaltig positiv auf den Einzelnen oder die Einzelne auswirken, wie Glücksforscher Raffelhüschen festgestellt hat: „ImGlücksatlas 2020 konnten wir zeigen, dass langfristig die Lebenszufriedenheit derjenigen, die mindestens einmal pro Jahr eine einwöchige Urlaubsreise unternehmen, deutlich höher ist als bei denjenigen, die dies nicht tun.“ Prof. Martin Lohmann, Diplompsychologe und wissenschaftlicher Leiter der jährlichen Reiseanalyse, spricht von „Marmeladenmomenten“. Glückserlebnisse im Urlaub mögen zwar mitunter kurz sein – ein gutes Essen, ein Sonnenuntergang oder Ähnliches –, wir können uns aber auch im Nachgang immer wieder an sie erinnern. Auch dies habe einen positiven Effekt. „Das Erholungsgefühl selbst hält nicht lange an“, räumt Lohmann ein, „vielleicht zwei, drei Wochen.“ Bestehen bleibe aber eine Art Kompetenzerweiterung – wenn beispielsweise jemand im Urlaub segeln lerne oder eine neue Sprache oder einen Berg erklimme, helfe ihm dies mitunter auch imweiteren Leben. Das Phänomen des Post-HolidaySyndroms, bei dem eine Reise einen mehrtägigen mentalen Durchhänger zur Folgehat, kannLohmann zufolge in der Gesamtbewertung eher vernachlässigt werden. „Unseren Erfahrungen nach überwiegen die positiven Effekte bei einer Reise.“ Wie wichtig ist uns überhaupt Erholung? Immens wichtig, wenn man die Ergebnisse der Glassdoor-Umfrage betrachtet. Demnach wünscht sich mit 78 Prozent eine deutliche Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland mehr freie Tage im Job. Vor allem in der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ist dies so: Nur 17 Prozent von ihnen sind laut Umfrage mit der Zahl ihrer Urlaubstage zufrieden. Der Grund scheint im Wesentlichen die Angst vor Burn-out zu sein. Mehr als zweiDrittel (68Prozent) der BefragtensindderAnsicht, dass Jahresurlaub dazu beitragen kann, einem Burn-out vorzubeugen. Nur ein Viertel (26 Prozent) gibt an, dass der Arbeitgeber dazu ermutigt, den gesamten Urlaub auch zu nehmen. Fast ein Drittel (30 Prozent) gab an, im vergangenen Jahr nicht den gesamten Jahresurlaub genommen zu haben, da es zu viel Arbeit gegeben habe. Wie aber kann Erholung gelingen, sodass der September wirklich ein Monat der Entspannung wird? „Man sollte vor demUrlaub nicht zu viel auf die Zeit nach der Rückkehr verschieben“, rät Psychologe Lohmann. „Damit man am ersten Arbeitstag nicht vor einem Berg unerledigter Aufgaben steht.“DenAlltag langsam angehen zu lassen sei die beste Methode. Dem setzt die Realität von Arbeit, Schule, Uni und anderem jedoch mitunter Grenzen. Wichtig sei in jedem Fall, so Lohmann, die Erkenntnis, dass auch der Alltag meist gar nicht so schrecklich sei, wie wir nach dem Urlaub denken. Theoretisch könnte übrigens auch jeder andereMonat ein Gefühl der Zufriedenheit vermitteln: Die Jahreszeit sei für die Erholung unerheblich, sagt Lohmann. Allerdings sollte man nicht außer Acht lassen, dass der Sommer in Europa bezogen auf das Wetter in der Regel die verlässlichste Reisezeit sei. Und theoretisch benötige es auch keinen dreiwöchigen Urlaub: „Der Erholungseffekt baut sich relativ schnell auf“, sagt Lohmann. Lässt man ökologischeAspekte außerAcht, wäre es insofern für die Erholung sogar sinnvoller, mehrere kürzere Reisen im Jahr zu machen. Was in Zeiten des Klimawandels freilich kaumnoch zu verantworten ist. Wer nicht an Schulferien gebunden ist, wäre womöglich noch aus einemweiterenGrund gut damit beraten, die urlaubsbedingte Gelassenheit in andere Monate zu übertragen: Im November und Januar sind die Preise für Pauschalreisen in Deutschland auf dem Tiefpunkt. LautVerbraucherpreisindexdesOnlineportalsStatista lagder Indexwert in diesen Monaten zuletzt bei 87,9 (November 2021) beziehungsweise 82 (Januar 2022) – am höchsten war er 2021 im Juli (133,3) und August (129,5). Basis (100) dieses Vergleichs war der Durchschnittspreis 2015. Betrachtet man eine alte Bauernregel, können sich ohnehin auch all jene gelassen geben, die imSommer nicht im Urlaub waren – zumindest, wenn das Wetter mitspielt: Der September warm und klar, verheißt ein gutes nächstes Jahr. An kaum einem anderen Ort ist Zufriedenheit in diesen Tagen deutlicher spürbar als bei der Arbeit. Eine steile These? Dann schauen Sie sich mal in IhremKollegium um – im Großraumbüro, inderKantine, inder nächstenBesprechung: Dortwerden SiemithoherWahrscheinlichkeit auf lauter sonnengebräunte, entspannte Menschen treffen. Manchen leuchtendieAugennochvondengrandiosen Ausblicken beim Wandern in Bayern. Andere erzählen von sensationellen Sonnenuntergängen auf Mallorca oder andernorts. Und selbst den Sommer im Schrebergarten zu verbringen macht Menschen oftmals zufriedener. Der September ist in den meisten Bundesländern der erste Monat nach dem Ende der Sommerferien. Und viele bringen die Entspannung undGlückseligkeit ihresUrlaubsmit zurück nach Hause. Stress? Lass nach! Ineiner aktuellenUmfragegaben sieben von zehn (71 Prozent) Befragten an, nach ihrem Urlaub mental gestärkt an denArbeitsplatz zurückgekehrt zu sein. Glassdoor, ein weltweiter Anbieter von Informationen über Arbeitsplätze und Unternehmen, hatte dafür im Juli insgesamt 1000vollzeitbeschäftigteArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland befragt. 73 Prozent bestätigten, dass Urlaub helfe, Berufsund Privatleben besser miteinander zu vereinbaren. Insgesamt hat sich arbeitsbezogener Stress nach der Auszeit bei einem Drittel (34 Prozent) der Befragten reduziert. Außerdem kamen 28 Prozent nach eigenen Angaben völlig entspannt aus demUrlaub zurück. In diesem Punkt gab es jedoch einen spürbaren Unterschied zwischen Männern (25 Prozent) und Frauen (33 Prozent). Der „Mai des Herbstes“, wie der September gern bezeichnet wird, scheint für viele ein Monat des Durchatmens zu sein. Die Nächte werden kühler, sodass man selbst in Von Michael Pohl Was der August nicht tut, macht der September gut. Johann Wolfgang von Goethe, dichter der schlecht isolierten Dachgeschosswohnung wieder besser schlafen kann. Die Tage aber sind noch ausreichend warm für Outdooraktivitäten. Licht, Entspannung, die Erlebnisse aus dem Sommer – viele sprühen dieser Tage nur so vor Energie. Der Dichter Wilhelm Raabe bezeichnete den September einmal als „die Zeit, Gedichte zu machen und aus dem Leben ein Gedicht“. Oder, um es mit Johann Wolfgang von Goethe zu formulieren: „Was der August nicht tut, macht der September gut.“ Der September ist also offenbar ein Monat mit Potenzial – vielfach auch zum Durchstarten. In vielen Unternehmen beginnen in diesen Wochen größere Projekte, die man zuvor wegen der Urlaubszeit außen vor lassen musste. Auch das neue Schuljahr nimmt an Fahrt auf. Selbst der deutsche Bundestagwurde –mit wenigen Ausnahmen – meist im September gewählt. Helmut Kohl soll einmal während seiner Amtszeit in kleinem Kreis die These aufgestellt haben, dass die großen Probleme aus der Zeit vor den Ferien nach dem Sommer vergessen sein könnten. Beobachter erinnern sich an folgenden Satz des Altkanzlers: „Jetzt warten wir erst Liegt es an der Sonne? Am Nichtstun? Daran, dass wir den Kopf mal frei von der Arbeit bekommen? Nie sind Menschen gelassener als nach dem Urlaub. Der September gilt deswegen bei vielen als der entspannteste Monat des Jahres. Aber wie lange hält diese Gelassenheit an? Und wieso verspüren wir sie zu anderen Zeiten seltener? Sonnabend/Sonntag, 3./4. September 2022 M Wochenendmagazin des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) MoNtage: RNd, FotoS: g-StockStudio/iStockphoto, SpleNdeNS/iStockphoto DasSeptember -Hoch

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